Heimat suchen Buchprojekt

Das erste Buchprojekt, an dem ich als Autor mitwirken durfte wurde nun veröffentlicht. Es war mir eine große Freude, Teil dieses wunderbaren Projektes gewesen zu sein.

Lügen an F

Du kannst mir nichts vormachen, ich kenne dich besser, als du dich selbst und doch schließt du mich beständig aus deinen Gedanken aus, verachtest mich, verweigerst mir dein Vertrauen, flüchtest dich in Wunden der Vergangenheit und hast mir nie eine reale Chance gegeben dir deine Ängste nehmen zu können.

Ich schenkte dir mein Vertrauen, war immer ehrlich zu dir, obwohl du wusstest, wie sehr man mich früher verletzt hatte, versuchte ich meine Angst vor neuen Wunden zu verbergen. All meine Geheimnisse und Sorgen lud ich bei dir ab, denn ich wusste, sie würden sicher bei dir sein, du würdest mich nicht verraten, genauso wie ich dich nie verraten könnte.

Ich erkannte sie, im Moment da du sie zum ersten Mal ausgesprochen hattest, die Lügen. Ich durchblickte sie, bevor du selbst dir ihrer bewusst werden konntest. Jede Verleumdung, jeder Blick mit so viel Zwietracht in deinen glänzenden Augen, die mir immer wieder die Wahrheit zeigten, die du nicht zu sprechen wagtest, ließen mich erschaudern vor deiner Selbstverachtung deiner Untreue und deinem eisernen Willen zur Lüge um jeden Preis.

Lügen hinterlassen die tiefsten Wunden, die du mir hast zufügen können, Worte sind schärfer, als jedes Schwert, doch hast du nie davor gescheut, dich ihrer zu bedienen um mich Stück für Stück mehr hinters Licht zu führen. Die schillernde Fassade bröckelt, denn darunter ist nichts weiter, als ein Heuchler, ein Feigling, der sich auf seinen Ausreden und Vorwänden ausruht, während er den Menschen, der ihn liebt mit all seinen Macken und Fehlern, hinterrücks ersticht ohne es zu merken.

Das Kartenaus Teil 5

Vertrauen und Ehrlichkeit sind die Grundpfeiler einer jeden zwischenmenschlichen Beziehung. Sie hatte ihm all ihre Sorgen anvertraut, er ward ihr engster Vertrauter und bester Freund in viel zu kurzer Zeit geworden, doch nie verlor sie ihre Wachsamkeit. Irgendwann kamen sie, die Tage an denen er die Tür des kleinen Kartenhauses vergaß zu schließen, Lügen fegten wie Windböen durch die engen Gänge, zogen bis in die hinterste Ecke und ließen es kalt um sein Herz werden. Verzweifelt klammerte Sie sich an ihn, doch je mehr sie seine Nähe suchte, desto weiter entfernte er sich vom kleinen Kartenhaus, das nunmehr dem Sturm alleine ausgeliefert war. Es lag in seiner Hand, das Kartenhaus zu stützen, die Grundmauern, die sie gemeinsam errichtet hatten zu erhalten. Immer weiter entfernte er sich von ihr und ließ sie mit einem Haus voller Löcher und Schäden zurück. Durch jede noch so kleine Ritze zog sich die Verzweiflung, die aus dem Rückgang des Vertrauens in diesen einen, besonderen Menschen ihre Kraft zog, schon bald wuchs sie über das kleine Kartenhaus hinaus. Die beste Freundin der Verzweiflung war die Einsamkeit, ihre neuen Weggefährten, die ihn zusammen mit der Enttäuschung Stück für Stück ersetzen würden, bis er ganz verschwunden ward? Wie hatte es so weit kommen können? Bis vor kurzem hatte sie geglaubt, dieses Kartenhaus sei durch ihn zum stabilsten Gemäuer, ihr Schutz und Zuversicht bietend geworden. Wie weit die Realität doch von der Vorstellungskraft abweichen kann, wenn der schillernde Prinz in seinen Fehlern vielmehr dem stumpfen Heuchler gleicht, dem jeglicher Mut zum Kämpfen fehlt, denn aus Fehltritten müsste er lernen, anstatt sich mit ihnen anzufreunden, um das kleine Kartenhaus retten zu können. Wie lange wird sich das kleine Kartenhaus noch halten können, bis es erneut zusammenfällt und sich mit jedem Tag dem Boden mehr angleicht?

Der Güterwagon (Teil 5, eine Kurzgeschichte)

Schlechte hygienische Verhältnisse zwangen ihn ans Bett und doch konnte er dort nie lange bleiben, denn er hatte Ruhr. Immer wieder übergab er sich, bis aus beiden Enden mehr Blut als anderes herauskam. Medikamente wollte man ihm gerne geben, denn er war einer der jungen, starken gewesen, einer von jenen, die gute Aussichten auf das Überleben hatten, doch man konnte nicht, so sehr die Ärzte auch wollte, sie hatten nichts. Medikamente waren Mangelware, wie eigentlich alles, so war es der Zufall, der ihm hier zum zweiten Mal das Leben rettete. Ein ältere Kamerad im Nebenbett, der sich seiner Verletzungen schmerzlich im Klaren war und ahnte, dass er selbst nicht überleben würde vertraute Gotthard seinen wertvollsten Besitz an. Um den Hals trug er ein kleines Röhrchen mit Medikamenten gegen diese teuflische Krankheit, die alle im Lazarett dahinraffte, die nicht sowieso schon starben, bei sich. Sich seines eigenen Schicksals bewusst, schenkte er diesen Schatz einem vierzehnjährigen Jungen, der kaum zu verstehen vermochte, wie hold ihm das Glück war.

Als der Krieg vorüber war, wusste der Junge nicht wohin er gehen sollte, doch alles was er sich wünschte war, seine Familie wieder sehen zu können. Er tauschte seine letzten Habseligkeiten gegen einen Kompass ein und begann seinen Weg zu Fuß, im Groben wusste er, wo man sie hingebracht hatte, doch ob sie wirklich noch dort waren und überhaupt alle noch lebten, das konnte ihm niemand sagen. Eines Tages lief er durch einen verlassen scheinenden Ort, da zog man ihn am Hemdkragen in einen ihm unbekannten Hauseingang und hielt ihm den Mund zu, auf dass er nicht schreien könne. In Todesangst riss er die Augen auf, denn er wusste nicht, wie ihm geschah. Als man ihm die Situation anschließend erklärte, ward er dem Tod ein weiteres Mal von der Schippe gesprungen. Draußen hatten Kontrollen stattgefunden, ihn hätte man nicht verschont, hätten sie ihn gesehen, denn schließlich ging er in Feindeskleidung durch die Gassen, woher sollte er auch andere haben? Fremde hatten ihn vor diesem Schicksal bewahrt, weil sie Mitleid mit dem viel zu jungen, abgemagerten Soldaten hatten, der äußerlich einem Greis mit Kindergesicht glich. Was von seiner Jugend übrig blieb? Nichts, als das blanke Überleben und damit konnte er sich als Glücklichster seiner Schulklasse schätzen, denn nur ihm war es gelungen, dem Tod gleich dreimal zu entkommen, die anderen mussten schon beim ersten Mal ihr Leben gegen eine feuchte Kuhle auf dem Feld eintauschen.

Als sie erwacht, schmerzen ihre Beine, denn sie hatte viel zu lange in gleicher Position gesessen, eingeengt zwischen ihren Geschwistern, den stetigen Geruch von Metall, Schweiß und Erbrochenem in der Nase. Immerhin, so glaubt sie kann man sich so ein wenig selbst belügen und den Anschein waren, als könne man sich gegenseitig Wärme schenken. Diese Wärme besteht zu einem größeren Teil aus Einbildung, als dass sie Realität wäre, doch die Geborgenheit, wenigstens ein paar ihrer Familienmitglieder um sich zu haben, schenkt ihr Mut und Vertrauen in die Zukunft. Hier ist es kalt, doch es konnte nur besser werden, irgendwann würden sie wieder in einem Haus wohnen und sie könnte zur Schule gehen, ohne sich in den Straßengraben werfen zu müssen.

Später würde sie ihren Kindern und Enkeln von diesen Erlebnissen erzählen, denn eine solche Zeit dürfte es hier nie wieder geben. Es war nicht alles leicht in der neuen Stadt und doch besser, als es im der Heimat hätte sein können. Die Lehrer in der Schule lachten sie beständig aus, weil ihr Akzent nicht zu jenem der Einheimischen passte. An Lebensmitteln und vor allem Platz bestand weiterhin ein viel zu großer Mangel. So lebten sie mehrere Jahre zu neunt auf dem kleinen Dachboden eines Bauernhofes. Betten teilte man sich grundsätzlich mindestens zu zweit, doch war sie froh, ein provisorisches Bett aus Strohsäcken war auch geteilt noch um Vieles angenehmer, als der eisige Bodes des metallenen Wagons. Sie mochte die neue Stadt und war doch immer ein wenig fremd, denn bis kurz vor ihrem Tod pflegte sie zu sagen: „Zuhause sein kann ich überall, Heimat habe ich nur eine.“ Diese Heimat hatte sie verloren, als sie gerade einmal sieben Jahre alt gewesen war und kein Ort der Welt war ihr je wertvoller, als Jauer (Javor) in Niederschlesien.

Eines Tages würde jemand ihre Geschichte niederschreiben, doch sie kann sie nicht mehr lesen, bis heute zeugt in Grabstein vom Heimweh nach einem Ort, den es so heute nicht mehr gibt, der nur in ihrer Erinnerung noch existierte und dem sie sich doch so verbunden fühlte, als dass sie nie aufhörte davon zu erzählen: Von der Herstellung eigener Bonbons mit ihren Geschwistern und dem Schulweg im Graben, von ihrer Hündin, die sie nie wieder sah und den beiden Geschwistern, die schon als Kleinkinder verstarben, von Spielen mit ihren Schwestern und dem Leben in der Kinderlandsiedlung. Mit dem Fortgang von diesem Ort ließ sie auch ihre Kindheit hinter sich, denn im Krieg hatte man keinen Platz für Sorglosigkeit, wie nur Kinder sie empfinden können.

Der Güterwagon (Teil 4, eine Kurzgeschichte)

Erschöpft von Aufregung und Anstrengung sinkt sie auf ihrem Platz zu Boden, neben ihr die treue Senta im Staub, wie es der einst stattlichen Hündin wohl gehen mag, ob sie noch am Leben ist? Und was Vater und der Bruder wohl machen? Vater musste sie ebenso, wie Senta zurücklassen, als sie in den letzten Güterzug in eine hoffentlich weniger gefährliche Welt einstiegen. Nur seinetwegen konnten sie gehen, bevor die neuen Leute kamen und in ihrem Haus wohnen würden. Er arbeitet bei der Bahn und konnte ihnen somit den „Luxus“ verschaffen, sich nicht zu Fuß auf die „Reise“ begeben zu müssen. Viele hatten es nicht so gut, wie ihre Familie, sie mussten ohne Hilfsmittel die Flucht antreten oder gar die Zerstörung ihrer Heimat mit ansehen, die neuen Bewohner würden sie nicht mögen und sie schlecht behandeln, das wussten sie, deshalb sagte man ihnen, sei es besser, sie gingen fort, denn sie würde ja bald zurückkommen können. Wohin, das wussten sie noch nicht, dorthin, wo man sie bringen würde, da wo der Zug nicht mehr weiterfahren würde, so vermutet sie. Vater durfte nicht mit ihnen fahren, er musste arbeiten, bis der letzte deutsche Zug abgefahren war, denn das war seine Pflicht.

In Gedanken versunken dämmert sie vor sich hin und denkt an jene, die nicht mit ihr im Wagon sitzen können. Ob sie Vater und Bruder je wieder sehen wird? Auch die Großmutter vermisst sie schmerzlich, denn sie gehörte zu den weniger Glücklichen. Tante und Cousine kümmern sich um die gebrechliche Frau, und traten mit ihr die Reise zu Fuß an. Später werden sie ihr abenteuerliche Geschichten erzählen, wie sie die Familie wieder gefunden und überlebt haben: Der Vater hatte sein altes Fahrrad genommen und fuhr akribisch an den Gleisen entlang stets mit dem Bild der Familie im Kopf, denn nur so konnte er die Strecke in völliger Einsamkeit über hunderte von Kilometern irgendwie zurücklegen. Er sprach nicht gerne darüber und sie konnte nur vermuten, wie es ihm wohl ergangen sein mag. Er musste Schlimmes erlebt haben auf dieser Reise ins Unbekannte, denn nie wusste er dabei wirklich, ob er seine Kinder je wieder in den Arm nehmen können würde.

Gotthard war anders, er war jung und erzählte ihr von manchen seiner Erlebnisse im Krieg, sicherlich nicht von allen, dazu war das, was er gesehen hatte zu schlimm und nicht für Kinderohren gemacht. Er hatte Menschen wie Puppen durch die Luft fliegen sehen, es war ihm, als Quelle rote Farbe aus ihnen heraus und manchmal auch weiße aus Körperöffnungen, die kein Mensch von Natur aus hat haben sollen, so erzählte er. Vierzehn war er gewesen, als sie ihn holten und Mutter hatte bitterlich geweint. Der Krieg ging schon viel zu lange und sie hatten alle nicht geglaubt, dass sie Gotthard wieder sehen würden. Er ging wie sie gerne zur Schule und war immer fleißig gewesen, und hatte sogar schon eine Lehre begonnen, bis sie eines Tages den Brief erhielten. Seine ganze Klasse wurde gerufen, zumindest die Jungen, alle gingen sie, denn sie hatten keine Wahl. Niemand von ihnen wusste, was sie dort erwarten würde und nur ein einziger kam zurück, ihr Bruder.

Die anderen dreißig ließen ihr Leben für die Heimat für die Gemeinschaft, so sagte man, doch können Kinder wirklich wissen, wofür sie kämpfen, ohne je eine Kindheit gehabt zu haben? Sie mussten erwachsen werden um zu sterben, eine andere Verwendung hatte man nicht für sie von Oben vorgesehen, der Krieg war ihr ganzes Leben und ihr Tod zugleich. Wertlos verscharrt wie die Reste einer Schlachterei, so beschrieb er seine Klassenkameraden. Gotthard hatte mehr Glück als Verstand und bis zu ihrem Lebensende gab sie seine Erlebnisse weiter, um andere zu warnen vor dem, was der Mensch mit Menschen machen kann, wenn er seinen Verstand nicht zu benutzen weiß. Schon bald ward er verwundet und musste daher zum Glück nicht mit ansehen, wie seine Klassenkameraden zu jenen menschlichen Puppen wurden, die er Fremde hat werden sehen. Er verbrachte lange Zeit im Lazarett und hatte keine Aussicht auf Genesung, nicht seiner Verletzung wegen, sondern weil es ihnen an allem fehlte.

Der Güterwagon (Teil 3, eine Kurzgeschichte)

Niemand hätte sich für eine solche Sache freiwillig entschieden, doch waren sie ja auch nicht auf einer Reise, sie waren auf der Flucht. Davon wusste sie natürlich nichts, man hatte ihnen gesagt, bald würden sie wieder nach Hause kommen, es sei nur für wenige Wochen, bis sich Ordnung eingefunden hätte. Doch ihre Heimat wurde an andere Menschen gegeben, denn dieser Teil des Landes gehöre nun nicht mehr zu ihrem Heimatland, das Haus hatten sie verlassen müssen und ihre geliebte Hündin, Senta die mussten sie festbinden, bevor sie gingen. Die gutmütige Hündin wäre ihnen gefolgt, doch hätte man sie nicht ernähren können auf einer Fahrt ins Ungewisse. Wie lange würde sie wohl überleben, immerhin kannte sie die Regeln des Grabens nicht, wenn das Surren über ihrem Kopf erschallte. Senta würde nicht, wie sie stillhalten, immer bedacht darauf, keinen Laut von sich zu geben, denn sie wusste nicht, dass jeder furchteinflößende Schlag der letzte für sie sein könnte. Mit dem Finger versuchte sie einen Hund in die Staubschicht auf dem kalten Fußboden zu malen. Ob diese Zeichnung Ähnlichkeiten mit Senta hat? Sie weiß es nicht, denn es herrscht Dunkelheit um sie herum. Licht gibt es nicht und jene, die eine Kerze haben, halten diese aus weiser Voraussicht zurück. Zum einen gibt es hier kaum Kerzen, diese dürfen daher nicht für die bloße Lichtgewinnung verschwendet werden. Es gibt ohnehin nichts zu sehen.

Es ist besser, wenn sie nichts sehen muss, denn dann bekämen die miefenden Gestalten, die sich dicht um sie herum drängen ein Gesicht. Dann müsste sie jene ihrer älteren Geschwister direkt ansehen, die beim letzten Essen nicht so viel bekommen hatten wie sie, die ja noch zu den Jüngeren zählt. Mutter teilt die mitgenommenen Speisen akribisch auf und versucht sie von den Jüngsten zu den Ältesten möglichst gerecht zu verteilen. Jeden Tag werden die Rationen kleiner und Mutter selbst, so vermutet sie, fastet schon eine ganze Weile, damit es für die Kinder reichen möge. Denn allen war aufgefallen, dass Renate, ihre jüngste Schwester, die gerade einmal sechs Wochen auf dieser Erde verbracht hatte, bei Mutter keine Milch mehr bekam. Somit musste die Älteste, immer wenn der Zug wieder einmal hielt, so wie jetzt gerade, aussteigen und Menschen suchen, die mit ihr tauschen konnten. Ein Stückchen selbst geschlachtete Wurst, gegen ein Bisschen Milchpulver für das Baby, auch jetzt ist sie wieder unterwegs und draußen beginnt es bereits zu dämmern.

Unerwartet beginnt der Wagen sich langsam in Bewegung zu setzen. Erst fällt es ihr gar nicht auf, dass sie sich wieder in Fahrt befinden, denn an das Schaukeln des Wagons hat sie sich ebenso sehr gewöhnt, wie an die gefühlt ewig andauernden Stillstände, wenn die Lok erneut zerstört wurde. Sie hatte nicht erwartet, dass sie diesmal so schnell die Fahrt wieder aufnehmen würden, sicherlich bewegt sich die alte, rostige Lokomotive beim Anfahren nur in Schrittgeschwindigkeit, doch langsam dämmert ihr, dass etwas fehlt. Vielmehr vermisst sie jemanden, der bis vor wenigen Stunden noch neben ihr auf dem eiskalten Metallboden gekauert hatte. Ihre Schwester, sie ist noch dort draußen, wo auch immer sie gerade sind. Ungläubig reißt sie die Augen auf und zerrt der Mutter am Jackenärmel, diese hat ebenfalls noch nicht bemerkt, dass der Zug sich wieder in Bewegung befindet, denn das Baby schreit vor Hunger und Kälte, während sie es fortwährend versucht zu beruhigen und doch nicht schafft.

Was ist mit Margot, versucht sie im Flüsterton zu fragen, denn andere Leute um sie herum versuchen ihren Hunger im Schlaf zu erdrücken und aus Erfahrung weiß sie deren Laune bei Störung dieses einzuschätzen. Verzweifelt springt sie auf und öffnet die Tür des Wagons, in der Dämmerung erkennt sie in einiger Entfernung eine wage Gestalt, ein Mädchen vielleicht dreizehn Jahre alt, in einem viel zu kurzen Kleid für die beginnend kühlere Jahreszeit und die späte Stunde, mit zerzaustem Haar und kaputten Schuhen. Aus der Ferne hört sie Rufe und kann doch nicht recht verstehen, was man ihr sagen will. Ungläubig schaut sie die Gestalt an und hofft inständig, dass der Zug, gerade jetzt noch einmal halten möge. Sicherlich wäre es ein fataler Kinderwunsch, sich jetzt die Flieger zu wünschen, auf dass sie die Lokomotive lahmlegen mögen, denn wer weiß schon, ob sie beim nächsten Mal je weiterkommen würden. Vielleicht würde man sie auch aufhalten und nicht weiterfahren lassen, wenn sie wieder liegen blieben. Doch dieses eine Mal, da hofft ihre unschuldige Kinderseele auf den lauten Knall, den sie so sehr fürchtet, jener, der Menschen vor ihren Augen wie Knallfrösche hat zerplatzen lassen. Nur die Lock möge es treffen und hoffentlich keine Verletzten geben, so dachte sie, denn sie können unmöglich ohne ihre Schwester losfahren.

Die ferne Gestalt nimmt langsam Konturen an und zu ihrem Glück erkennt sie die geliebte Schwester immer deutlicher, fast hat sie es geschafft, es trennen sie nur noch wenige Meter von der fahlen Metalltür, die sie zu ihrer Familie führen wird. Gut, dass der Zug so lange braucht, um Fahrt aufzunehmen, geistesgegenwärtig streckt sie die Hand aus, um sie der Rennenden zu reichen, denn Mutter kann ihr nicht helfen. Von Innen wird sie von den älteren Geschwistern gehalten, um nicht aus dem Wagen zu fallen. Verschwitzte Finger greifen nach der Kinderhand und klammern sich mit letzter Kraft an sie in der Hoffnung, wieder in den Wagen gezogen zu werden. Drinnen angekommen holt sie schluchzend ein winziges Tütchen Milchpulver aus ihrer Tasche, denn man hat ihr nicht mehr tauschen können, auch hier ist alles viel zu knapp und niemand hat mehr genug auf dem Teller. Sichtlich erleichtert und doch noch immer voller Sorge um ihre Kinder zündet die Mutter eine der gut gehüteten Kerzen an, um in einem kleinen Emaille Töpfchen das Milchpulver mit Wasser zu erwärmen. Es ist die Kommunionkerze ihrer älteren Schwestern, die einzige Lichtquelle, die sie dabeihaben. Wärme kann sie ihnen nicht geben und so drängen sie sich trotz der vielen Kleidungsschichten dicht aneinander. Für Koffer gab es keinen Platz, sie hatten nur das mitnehmen dürfen, was sie am Leibe trugen, alles andere mussten sie zurücklassen.

Der Güterwagon (Teil 2, eine Kurzgeschichte)

Reglos lag sie im Straßengraben. Verletzt war sie nicht, doch wagte sie nicht einmal zu zittern, denn dann könnten sie sie sehen, jene, die sie nicht einmal kannte, von denen sie nicht wusste, warum sie sie beobachteten. Heute war es still um sie herum, heute war ein guter, ein einfacher Tag. Gestern hatte sie einen Schlag nur wenige hundert Meter neben sich gehört. Sie hatte ihn nicht nur gehört, sondern auch gespürt. Vermutlich hatte es jemanden erwischt. Sie hatte die Hände vor die Augen geschlagen und verharrte wie heute Regungslos im Graben. Wie lange sie dort gelegen hatte, wusste sie nicht, denn lange Zeit war es still um sie herum. Niemand wollte riskieren, Opfer des nächsten Knalls zu werden. Sicher lagen noch mehr Kinder in den umliegenden Gräben und verbargen das Gesicht im Schlamm. Dreck machte ihnen nichts aus, ganz im Gegensatz, er beruhigte sie fast sogar, denn er war kühl und vertraut. Viel zu oft hatte sie hier oder an ähnlichen Stellen schon gelegen und gewartet, bis die gefühlte Stille sich zu realer Stummheit entwickelte. Denn geräuschlos war es in diesen Situationen nie, auch wenn sie selbst nie auch nur den geringsten Laut von sich geben durfte. Hatte man sie gesehen, so nahm das wahllose Gewitter über ihrem Kopf seinen Lauf. Sie versuchte den Atem anzuhalten und schmeckte dabei die Bitterkeit des Matsches in ihrem Mund.

Heute hatte sie wieder einmal Glück gehabt, genau wie gestern schon. Wie oft sie dieses noch herausfordern konnte? Sie wusste es nicht. Doch heute konnte sie zur Schule gehen, dorthin, wo sie dem Alltag für einen winzigen Moment entfliehen konnte, denn schon bald würde sie wieder im Graben liegen und warten, bis das Surren über ihrem Kopf nachließ und irgendjemand, zumeist ein Erwachsener sich zuerst traute, ein Geräusch zu machen, denn ihr fehlte der Mut dazu, trotz ihres kindlichen Gemüts war sie sich der Gefahr durchaus bewusst, vielleicht würden sie sie morgen treffen.

Sie trafen nicht. Eingeengt zwischen Menschen, die alle die gleichen Gedanken verfolgten, wartete sie. Wieder einmal hatte es einen Schlag gegeben und nun mussten sie warten. Wie lange, das wussten sie nicht. Stunden, Tage, vielleicht Wochen, denn nicht nur in der Schule war das Material knapp gewesen. Sie hatten den Zug für einen Warentransport gehalten, der neue Waffen hätte transportieren können, denn woher hätten sie auch ahnen sollen, dass sich in diesem grauen, verbeulten Güterzug, dessen Farbe so sehr abblätterte, als dass die Luft schon danach zu schmecken begann, Menschen befanden. Kinder viele an der Zahl, die Meisten um sie herum waren ihre Geschwister. Zu neunt waren sie gewesen, früher einmal sogar zu elft und da waren Vater und Mutter noch nicht dazu gerechnet. Hier im Güterwagon sind sie zu neunt, die Mutter einbezogen, denn wer hätte Kinder alleine reisen lassen sollen?

Vermissen (an F.H.)

Das Gefühl des Vermissens beginnt schon im Moment, da ich deine Hand loslassen muss, weil einer von uns in den Zug steigt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, als würde ein Teil meiner Seele sich von mir abspalten und mit dir gehen, wo auch immer du gerade bist, ohne dass ich es verhindern oder beeinflussen kann. Liebe ist ein Gefühl, dass man beeinflussen kann, zumindest am Anfang, bevor man sich in einen anderen Menschen verliebt, doch Vermissen geschieht automatisch. Es ist unklar, ob dieses Gefühl positiv oder negativ zu konnotieren ist, denn grundsätzlich kann ich nur jemanden vermissen, der mir unglaublich wichtig ist, ohne den ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann, somit zeugt es von meiner Zuneigung und meiner Verletzlichkeit, wenn du nicht bei mir bist.

Im gleichen Zug ist es ein Gefühl, das schmerzlicher ist, als alle anderen Gefühle es je sein könnten. Selbst Schmerz und Trauer gehen irgendwann vorüber, denn man sagt: Die Zeit heilt alle Wunden. Doch das Vermissen kann nicht beendet werden, es setzt immer wieder von Neuem ein und wird von Mal zu Mal nur stärker und schmerzlicher. Die ersten zwei Tage ist es nur eine Ahnung von dem, was mich ein jedes Mal in baldiger Zukunft zu erwarten sucht. Vermissen lässt sich wohl in einem ansteigenden Graphen ausdrücken, der schlagartig fällt, sobald ich dein Lächeln wieder sehen darf. Denn dann ist alles vergessen, jede unterdrückte Träne verdrängt, als sei nie etwas gewesen, denn dein Lachen ist für mich das schönste dieser Welt. Einmal las ich: „Man kann einen Menschen nie so sehr lieben, wie man ihn vermissen kann.“